Montag, 22. April 2013

"Helden" oder "Grenzen sprengen"

Uraufführung des Balletts "Helden" in der Bayerischen Staatsoper in München
So gehört´s: Sieht man keinen Ausweg aus einer Situation, fühlt man sich unterdrückt, unfrei? Grenzen sprengen! Wenigstens diesen Drang haben die sogenannten heldischen Naturen, die oft dafür zahlen müssen, nicht weil sie im Unrecht sind, sondern weil sie den Status-quo in Frage stellen, oder weil irgendein "Anti-helden" sich dazu berufen fühlt, den Helden zu bremsen.
Wie aktuell ist also in unserer Zeit die Uraufführung des Ballets "HELDEN" von Terence Kohler? Frische Luft vielleicht in einer Zeit, die der ständigen schlechten Nachrichten über Krise und wieder Krise müde ist. Solange es eine Welt gibt, wird es Helden geben, da besteht kein Zweifel, und wer wäre ein besseres Symbol dafür als Prometheus, der größte Rebell unter all den Helden der griechischen Mythologie?
Terence Kohler hat mit seinem sicheren Gespür für Musik, Dramaturgie und Tanz, das sich genau an der Grenze zwischen Klassik und Moderne bewegt, also in der Neo-Klassik, die beste Story und die am besten dafür geeignete Musik ausgesucht. Die Genialität seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Rosalie und die Perfektion des herrlichen Ballett-Ensembles der bayerischen Staatsoper haben dann ihren Teil dazu beigetragen, um seiner Idee grossen Erfolg zu bescheren.
Die gestrige Premiere war eine Apotheosis, nicht nur für die vier Protagonisten, sondern auch für das Ballet-Ensemble, das wie der Chor einer altgriechischen Tragödie eine wichtige Rolle gespielt hat. Es war obendrein auch eine Apotheosis für das Orchester, den Dirigenten, den Choreografen und, was so selten passiert, sicherlich auch für die Komponistin, deren Werke gestern aufgeführt wurden. Was für ein grossartiger und seltener Moment, eine Komponistin auf der Bühne zu erleben, und vor allem, wie ungewöhnlich für einen Ballet-Aufführung! Lera Auerbach, die 39jährige russische Komponistin, die in New York lebt, hat selbst erleben können, wie ihre gigantische Musik teilweise den Tanz der Titanen Prometheus und Epimitheus und der Göttinen wie Athene begleitet hat. Ja, gestern, das war nicht nur ein Ballet-Abend. Es war ein Fest auch und vor allem der Musik, die ihren szenischen Ausdruck auf eine natürlichen Weise im Tanz findet. Auch die Kompositionen von Alfred Schnittke erwiesen sich dafür als eine perfekte Wahl. In klassischen Mustern beginnend, lässt er seine "Concerti grossi" langsam harmonisch entarten, fremdartig klingende Musik kommt hinzu, Freiheit der Klänge und Formen, die aber dennoch nicht in chaotischer atonaler Musik enden: Es ist eine neue Musik, deren  kraftvolle Schwingungen im Körper wirksam werden, die immer noch alle mögliche Gefühle der menschlichen Seele ausdrückt, Freude, Schmerz und Verzweiflung, die Liebe und das Mitleid. Sie ist Rythmus, Tanz, sie ist Gefühl und Leidenschaft. Alles das ist sie, aber klanglich nicht in den gewohnten und bekannten Grenzen. Die Musik von Schnittke ist eine grenzen-erweiternde Musik und beweist sich als eine unglaublich gute Wahl für Kohlers Ballet mit dem Titel "Helden". Das Orchester der Staatsoper hat Wunder gewirkt. Eine präzisere und bessere Exekution konnte man sich nicht wünschen. Dies gilt ebenso für die gewaltige, klanglich unglaublich reiche und atmosphärisch Musik der Lera Auerbach: Auch hier werden Grenzen gesprengt. Erst einmal, weil sie das klassische Orchester mit Instrumenten bereichert hat, die normalerweise nicht dazu gehören. Eine singende Säge, ein Thermonin (mit diesem typischen Sci-Fi Klang)! Und dann auch noch die bemerkenswerteste aller Grenzerweiterungen, nämlich eine Frau als Schöpferin und Genius, die den Konservativen eindrucksvoll beweist, dass das Komponieren nicht ausschließlich eine männliche Domäne ist!
Das Publikum sollte natürlich mit den mythologischen Gestalten der vier Protagonisten halbwegs vertraut sein, bevor es ins Theater geht, da der Tanz zwar symbolisch alles schildert, aber dem Unwissenden sicherlich Rätsel aufgibt. Das "Feuer" zum Beispiel wird durch zwei LED-Lampen an den Handgelenken der Tänzer und Tänzerinnen dargestellt. Treffende Idee, vielleicht der Rosalie, der Bühnenbildnerin, die sich für die Aufführung offenbar vom dem Film "Prometheus- dunkle Zeichen" inspirieren lassen hat. Feuer damals, heute die "magische" Kraft unserer Hände, unseres Geistes, in Lichtspiele transformiert.
Aus dem Film "Prometheus - Dunkle Zeichen", Ähnlichkeit mit Rosalies "Helden"
Prometheus erträgt die Diktatur von Zeus nicht, seine elitäre Haltung und der Drang, alles unter seiner Kontrolle zu haben, die Menschen als nichtig zu betrachten, von ihnen Ehrerbietung und Opfer zu verlangen und ihnen schließlich das Geschenk des Feuers zu verweigern. Der Titan, der aus Liebe entflammt, kann das nicht ertragen. Mit Hilfe der Weisheitsgöttin und Tochter des Zeus, Athene Parthenos, die Jungfrau, (welche Parallelen zur deutschen Saga der Brünnhilde, Wotan und Siegfried), lehrt er die Menschen die Künste und schenkt ihnen das Feuer. Der Mythos wird im Ballet mit der Geschichte des Epimetheas verknüpft, dem Bruder des Prometheus, der vergeblich den Wahn seines Bruders zu zähmen versucht, und seiner Gemahlin Pandora, ebenfalls ein Geschenk der Götter, um die Menschen zu vernichten, eine wunderschöne weibliche Gestalt, die eine Büchse voll Unheil mitbringt. In dieser Weise verbindet Kohler die Gabe des Feuers mit der Erscheinung der katastrophalen Büchse, das absolut Gute der Entwicklung mit der Erscheinung von Krankheiten, von Kriegen und jeglichen Übels für die Menschheit. Aber dem zweiten Teil des Balletts (Epimitheus) folgt noch ein dritter, der an die Erscheinung der Hoffnung erinnert, die Hoffnung, die am Grund der Büchse bleibt und der Menschheit das Überleben ermöglicht. In der Vision von Kohler ist diese Erlösung eine Befreiung der Menschheit durch einen ritualen Tanz, egal, ob es nun der Tanz Shivas oder das Sema der Sufis ist, ein Tanz ist auch wie ein Gebet, das wieder Ordnung und Schönheit in den Kosmos bringt.
Ich finde, dass Kohler noch eine weitere Grenze gesprengt hat, und das hat mit der Dramaturgie zu tun. Das Ballet ist in drei Teile geteilt. Es wird die selbe Geschichte erzählt, das Erwachen der Menschheit, die Degenerierung der Menschheit, die Erscheinung der Hoffnung, das Überleben. Jedes der drei Teile zeigt die ganze Geschichte aus einer anderen Sichtweise. Das erste Teil konzentriert sich auf Prometheus. Irgendwann erscheinen während des ersten Bildes auch Pandora und Epimitheas auf der Bühne, aber wir können es nicht erkennen, wir bleiben mit der Frage zurück, wer diese Gestalten wohl sind. Bis wir sie im zweiten Teil wieder erkennen, aus einem anderen Blickwinkel erzählt. Wir werden auch Bewegungen aus dem ersten Teil im zweiten wieder sehen, aber wir befinden uns in der Geschichte aus dem Blickwinkel von Epimitheas. Und im dritten Teil, die Göttin und Freundin von Prometheus, Athene, von dem Leid der Menschheit nicht korrumpiert, aber mitfühlend, durch ihren klaren Verstand und ethische Stärke inspiriert, drängt in einem geistigen Ritual die ganze Menschheit zum Aufstehen, zum Aushalten. Die Musik, die hier in einer berührenden Weise ausserordentlich passt, das "Ritual" von Schnittke, mit ganz tiefen Tönen des Schlagzeuges und der Bläser beginnend und in extrem hohen, filigranen Tönen eines Vibrafons endend, wirkt aufsteigend und erhebend. Grandios war dieses Finale, mit dem Aufstieg des Chores der Menschheit, einzeln am Anfang und am Ende erheben sich alle und tanzen zusammen mit der jungfräulichen Göttin, die sie schließlich zu einem kosmischen Lachen animiert, die dann weiter allein mit dem Licht tanzt, bis die Musik gleichsam ins Nichts entschwindet, fast unhörbar wird, in höheren Sphären aber weiter klingt und tanzt. Schnittke hat das Werk als Erinnerung an die Opfer des 2en Weltkrieges geschrieben. Es greift sehr tief in der Seele...
Eine letzte Grenze die gesprengt wurde und die mich auch zum Lachen gebracht hat, war die ungewöhnliche Tatsache, dass die Tänzer zu SPRECHEN begannen! So haben Epimitheus und Prometheus in einer fiktiven Sprache wahre Wortgefechte geführt. Und das Ensemble hat am Ende seines Tanzes wirklich gelacht. Dieses Lachen hat so wunderbar zur Musik von Schnittke gepasst. Es hat seine Musik mit Liebe und Sinn erweitert. Na, endlich mal! Wer hat gesagt, dass der Schauspieler nicht singen oder tanzen darf, der Sänger nicht sprechen oder spielen, der Tänzer nicht sprechen oder singen? Eine Grenze wurde gesprengt. Was auf der Bühne passiert, soll heute keine Grenzen mehr haben, der Darsteller sollte alles dürfen, schreien und tanzen, singen und weinen, alles was ein Mensch auch in seinem Alltag machen kann.
Was kann man über die Solisten und das Ensemble schreiben? Sie waren immer und werden immer ausserordentlich sein. Lukas Slavicky gehört, seitdem ich ihn zum ersten Mal in "the Tempest" (nicht als Prospero, sondern als Ferdinand) gesehen habe, zu meinen Lieblingstänzer. Ich habe schon damals sein dramatisches Talent erkannt und wünschte innerlich dass er bald komplexeren Rollen tanzen darf. Der Direktor des Ballets hat es auch erkannt: als Goldene Sklave (Sheherezade) war er brillant.  Mit Prometheus jetzt, den rebellischen Einzelgänger, kann er auch sein vielseitiges Talent zum Vorschein bringen mehr als die süssen romantischen Helden. Und er hat noch viel Potenzial, die komplexeste Rollen zu tanzen. Eines Tages möchte ich ihn als Mayerling tanzen sehen. Als Prometheus ist es ihm perfekt gelungen den kalten, bisschen arroganten Frankenstein-mässigen Helden zu spielen, aber mit Kraft und Leidenschaft ist er bis zum Schluss, konsequent an dieses Bild geblieben. Bravo. Brava auch seine Partnerin, Emma Barrowman in der Rolle der Athena Parthenos. Sie hat ihre Rolle faszinierend gebildet, eine starke Heldin, die aber hinter der starken Fassade auch zerbrechlich sein kann: für diesen so gelungenen Kontrast ihrer Rolle, aber auch für die Feinheit und Klarheit ihrer Bewegung, hat sie den grössten Applaus gestern wirklich verdient. Sehr gut haben auch Ilia Sarkisov (als menschlicherer Epimitheas) und Katerina Markovskaja (Pandora) getanzt. Diese letzte könnte vielleicht ein bisschen mehr ihre Rolle vertiefen. Eine Pandora gehört zu den fatalsten weiblichen Gestalten der Welt-mythologie. Eine Lulu wurde von ihr inspiriert. Die zierliche, süsse Russin war vielleicht zu kindlich, zu wenig heldisch, sagen wir so. Das Ensemble schliesslich hat sich mit Liebe engagiert, man hat sofort das gute Arbeitsklima -das in diesem Theater herrscht- gespürt. Echt tolle Gruppe.
Helden brauchen wir, also lassen wir uns auch durch diese wunderbare Aufführung (sie wird noch bis zum Ende des Sommers oft wiederholt, also nicht verpassen!) wie durch eine Lichtfackel inspirieren und am Ende lachen und wieder hoffen. Die Welt wird nie untergehen solange es Menschen gibt, solange es Götter gibt, und vor allem, solang es Helden gibt!

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